Wie sollte man an die Große Fastenzeit herangehen, um an ihrem Ende nicht nur Müdigkeit und Enttäuschung zu verspüren? Dazu die Gedanken von Erzpriester Pawel Welikanow, Prorektor an der Moskauer Geistlichen Akademie. Original unter http://www.bogoslov.ru/text/2465594.html
Ich wage es anzunehmen, dass der gefährlichste Fehler, den ein Mensch begehen kann, wenn er sich an der Übung der Großen Fastenzeit misst, darin besteht, irgendwelche Garantien für einen geistlichen Erfolg zu suchen. Das ist aber auch natürlich für uns: wer würde denn sonst ohne irgendwelche Garantien „investieren“, ohne, dass „die Einlagen versichert“ sind? Tatsächlich, zum Osterfest sollte man doch mit einer vollkommen reinen, geweißten Seele antreten können und Christus die Frage stellen: „Herr! Da bin ich, ich bin bereit, komm zu mir. Du hast gesehen, ich habe durchgefastet, alles abgebetet, mich durchgequält: von meiner Seite ist alles erfüllt, ich bin durchaus bereit für Deine lichte Auferstehung!“ Oder, einfacher gesagt, vielleicht so: „Herr! Wie war das gleich nochmal mit unseren geistlichen Dividenden?“… Und wenn ein Mensch mit solchen Gedanken zu fasten beginnt, vernichtet er damit sogleich die geistliche Frucht, die er am Ende dieser vollwertig und recht durchlebten geistlichen Disziplin erringen könnte.
Die heilige Kirche setzt dem Kampf der Großen Fastenzeit nicht umsonst bestimmte, darauf einstimmende Sonntage voraus und nimmt dadurch an, dass ein aufmerksamer Christ sich in erster Linie darum Gedanken macht, warum er nicht wie der Pharisäer beten soll, und sich in der Kirche auch nicht als jener älteste Sohn fühlen darf, der mit Unbill und Erstaunen darauf blickt, wie der jüngere Sohn, der Hurer und Prasser, zu seinem Vater zurückkehrt, und jener ihn mit offenen Armen begrüßt.
Der Sonntag des Jüngsten Gerichts setzt endgültig alle Akzente. Denn in dieser Lesung aus dem Evangelium ist nicht die Rede davon, wer gefastet hat, wer nicht gefastet hat, oder wer gebetet hat und wer nicht gebetet hat, sondern von dem Zustand, in welchem ein Mensch zum Jüngsten Gericht kommt. Das ist ein Zustand, der sich in aller Regel radikal davon unterscheidet, was der Mensch über sich selbst denkt.
An dieser Lesung schockiert besonders die Aufrichtigkeit der Sünder, die nicht verstehen, weshalb sie in die Hölle geschickt werden. O, wenn man es ihnen nur eher gesagt hätte – sie hätten sicher alles so gemacht, wie es sich gehört! Aber noch wesentlich mehr schockiert mich vielleicht dieselbe Aufrichtigkeit der Gerechten, die in Verlegenheit darüber geraten, warum sie sich plötzlich unter den Auserwählten wiederfinden. Denn das, wofür sie letztlich die Möglichkeit bekommen, mit Christus im Himmelreich zu sein, waren für sie nie Dinge, die diesen Zweck verfolgten. All das – Nahrung und Trinken geben, trösten – das waren für sie selbstverständliche Dinge, anders dachten sie gar nicht, und sie konnten sich nicht vorstellen, in der jeweiligen Situation anders zu handeln.
Durch diese recht harten Parabeln, die in der sonst gütigen Atmosphäre der Kirche doch sehr schrill klingen, schlägt uns die Kirche die irrigen Annahmen weg, die wir um uns herum aufbauen, damit die Fastenzeit, unserer Meinung nach, erfolgreich und gnadenerfüllt verliefe.
Wie sehr wir auch fasten, wie eifrig wir auch beten, welche geistlichen Übungen auch immer wir auf uns nehmen, am Ende haben wir uns vielleicht bis zur völligen Kraftlosigkeit und Erbitterung gefastet und fragen uns, wer sich all das ausgedacht hat – dann sind wir vielleicht in diesem einzig richtigen Zustand, in welchem der Mensch gar nicht mehr anders kann, als seine Augen gen Himmel zu Gott zu erheben und zu sagen: „Herr, so bin ich, zu etwas anderem bin ich nicht in der Lage. Alles Weitere hängt von Dir ab.“
Und genau darin besteht ja aber der Sinn des Fastens – darin, dass man die falschen, gekünstelten Garantien unserer letztendlichen Nähe zu Gott, unseres „Anstands“ oder gar unserer „Einzigartigkeit“ los wird, dass man die Seele von innen nach außen kehrt, sie sich vor Augen führt, wie sie wirklich ist. Sie sich selbst vor Augen hält, denn Gott kennt sie ohnehin.
In diesem Zustand, der fast einer Verzweiflung gleicht, kann sich der Mensch vor das Angesicht Gottes begeben, ohne die Forderung nach Leistung irgendeiner Hilfe, ohne die Forderung oder die Erwartung, dass die Gnade auf ihn herniederkommt. Und wenn ein solcher Mensch schon die Schwelle der Fastenzeit überschritten hat und zum Osterfest übergeht, stellt er sich sicher nicht mehr die Frage: „Herr, was ist das denn? Wo ist denn die versprochene Gnade? Ich habe so sorgfältig gefastet, so sorgfältig gebetet, so viele geistliche Übungen auf mich genommen – und spüre keinerlei österliche Freude.“ Er wird stattdessen sagen: „Wie gut, dass ich gar nicht erst versuche, diese Freude der Auferstehung in mir zu imitieren – die in der Tat leider noch ausbleibt. Wie wunderbar, dass all meine Mühen gezeigt haben, dass ich Gott selbst dafür Dank schuldig bin, dass ich auf dieser Erde lebe, mehr oder weniger gesund bin und etwas tun kann.“…
Jeder andere Zustand der Seele schließt genau diese, von Oben herabkommende himmlische Freude der Auferstehung Christi automatisch aus, oder besser gesagt: sie wird blockiert; denn diese Freude können wir durch keinerlei Mühe selbst, künstlich in uns hervorrufen.
Ich weiß nicht mehr genau, wo, aber bei jemandem von den heiligen Vätern traf ich den Gedanken an, dass die Auferstehung Christi wie ein Mysterium ist, das innerhalb der Kirche und in den Seelen der Menschen passiert, welche Glieder dieses Leibes sind. Tatsächlich, das ist ein vollkommen wunderbarer Moment der Berührung zwischen der Bereitschaft des Menschen und der Gnade Gottes. Aber wie und wann diese Begegnung stattfindet, das hängt natürlich in erster Linie von Gott ab.
Warum spricht denn der heilige Johannes Chrysostomos in seiner Osterhomilie, die in jedem Gottesdienst der Osternacht verlesen wird, die vom Standpunkt der Frömmigkeit her seltsam scheinenden Worte: Kommt alle, die ihr gefastet habt, und die ihr nicht gefastet habt, ihr Enthaltsamen und ihr Faulen? Damit, so scheint es doch, untergräbt er jegliche kirchliche Disziplin, die verlangt, dass ein Mensch die Große Fastenzeit mit besonderer Aufmerksamkeit und Sorgfalt einhält. In Wirklichkeit gibt es hier keinerlei Widerspruch. Ja, unsere menschliche Seite ist sehr wichtig. Ja, wenn wir die Disziplin aus bestimmten Gründen nicht einhalten, zeugen wir damit von einem recht seltsamen Verhältnis zu Gott. Aber es ist doch nicht das Maß unseres Fastens, das bestimmen würde, ob Christus in die Seele des Menschen tritt oder nicht.
Wir wissen, dass es solche Fälle gibt, wenn ein Mensch, der nie gefastet hat und sein Leben lang die Kirche nicht besucht hat, plötzlich mitten in diesem Element des österlichen Gottesdienstes ist, in dieser tanzenden, jubelnden Freude. Und es wird ihm plötzlich klar: hier passiert etwas derartiges, das es in der Welt in gewöhnlichem Zustand nicht gibt. Das kann man nicht nur mit rein menschlicher Anstrengung nachstellen, indem man singt, sich erheitert, tanzt, vielleicht etwas „geistiges“ trinkt. Alles das würde eine vollkommen andere Qualität haben: die Freude, die durch den Gottesdienst an die Seele des Menschen dringt, ist eine andere. Es kann außerhalb nicht diese alles erfassende Feierlichkeit geben, durch welche der gesamte österliche Gottesdienst geprägt ist.
Manches Mal stehen alle am ersten Tage der Osterliturgie vollkommen gequält von der Vorbereitung der Feiertage da, mit sauren, überfasteten Mienen, ringen sich mit letzter Kraft ein „Christus ist auferstanden!“ ab, aber man braucht sie nur ein wenig zu beobachten, und es fällt auf, wie sich diese Menschen gleich am nächsten Tag verändern. Denn auch der Seele des Menschen ist eine gewisse Trägheit eigen. Auch sie verlangt ein allmähliches Eintauchen in diese österliche, jubelnde Freude. Und es ist nichts Schlimmes daran.
Dass der Mensch in sich nicht gleich den Glanz des göttlichen Lichts wahrnimmt, sollte niemanden bestürzen. Im Gegenteil, es sollte inspirieren: ich bin da, wo ich hingehöre. Eigentlich ist das gerade ein gutes Zeichen dafür, dass alles richtig ist, ich baue nicht darauf, dass ich auch nur die geringsten Forderungen einzulösen gedenke oder dass es auch nur kleine Garantien von Seiten Gottes gibt, dass, wenn ich dieses und jenes tue, Er mir unbedingt begegnen wird. Ich mache maximal all das, was ich kann, aber das Resultat überantworte ich vollkommen dem Willen Gottes. Wenn Er mir nicht hier und nicht jetzt begegnen will, wenn Er nicht will, dass ich diese Fülle an Freude spüre, die um mich herum vielleicht alle anderen spüren, dann muss ich innehalten und Gott für diese wertvolle Erfahrung danken, mit der Er uns lehrt: „Herr, mir ist schon allein davon gut, dass ich weiß, wie schlecht es mir ohne Dich geht!“.