Die Vorahnung der Wirklichkeit Christi Auferstehung beginnt lange vor dem nächtlichen Gottesdienst in der Kirche… Wir sind ziemliche Glückspilze, für welche selbst der tragischste Gottesdienst des Jahreskreises – nämlich die symbolische Grablegung Christi am Karfreitag, das Auslegen des Grabtuchs – nicht nur von Schmerz, sondern auch von Hoffnung erfüllt. Von einer Hoffnung darauf, dass bald schon Ostern ist.
Das Grabtuch Christi wird in der Kirche ausgelegt, und die Gesichter der Geistlichen und der Beter sind von Trauer erfüllt, es ist herzzerreißend, die Worte aus dem Klagelied der Gottesmutter zu hören, die sie am Leichnam Ihres gedemütigten, nun toten Sohnes spricht. Es scheint, als gäbe es in der Welt keinen Lichtschein mehr, keinen gütigen Schatten, keinen Hoffnungsschimmer mehr. Schon hat das Dunkel die Welt bedeckt, die Erde hat sich aufgetan und die gestorbenen Gerechten freigegeben, so dass sie Vielen erschienen sind, und der Vorhang im Tempel riss entzwei von oben bis unten und enthüllte das leer gewordene Allerheiligste.
Doch das Herz flüster: wir können hoffen. Wir wissen, dass es die Auferstehung GIBT. Viel schlimmer war es für die, welche den toten Gottessohn vom Kreuz abnahmen, dabei versuchten, den Gedanken zu verscheuchen, dass die Tür zum ewigen Leben nun doch nicht geöffnet ist. Viel schlimmer war es für die, welche den toten Gottessohn mit Aromen benetzten und seinen Körper in neue Leinentücher schlugen, und sehen mussten, welch schrecklicher Tod ihn ereilt hat – so dass selbst der Gedanke an eine Auferstehung als vollkommen irrsinnig erschienen wäre. Viel schlimmer war es für die, welche an sich selbst spüren mussten, wie das ist – innerhalb einer feindseligen Welt vollkommen alleingelassen zu sein und damit konfrontiert zu sein, dass, allem Anschein nach, das Böse gesiegt hat.
Wie haben sie diese bitteren, düsteren Stunden und Tage verbracht? Welche Gedanken beherrschten sie? Das werden wir nicht erfahren – denn es GIBT die Auferstehung. Und während wir am Grabtuch große Metanien schlagen, wissen wir, dass wir bald „Christus ist auferstanden!“ singen können, lachen und freudig ausrufen werden, dass der Tod und der Hades besieht sind und einander umarmen und Freudentränen wegwischen werden.
Wir sind Glückspilze, denn wir können, im Unterschied zu den Aposteln, der Gottesmutter, den Myronträgerinnen und den Freunden Christi das tun, was sie nicht tun konnten. Wir können Ihn menschenwürdig bestatten, Ihm unsere letzte Ehre erweisen, an Seinem Leichnam beten und den letzten Kuss geben. Wir können das tun, was sie nicht zu tun geschafft haben. Denn im Leben der Kirche gibt es Momente, in denen sich die Grenzen der Zeit auflösen.
Sie verschwinden, wenn die Göttliche Liturgie stattfindet und die Türen des Obergemachs, in denen Christus mit Seinen Jüngern vor der Gefangennahme war, für alle weit geöffnet sind – für uns, die wir jetzt leben, für die, welche bereits gegangen sind und für die, welche noch kommen sollen. Wir alle stehen an dem Einen Kelch und hören gemeinsam mit den Aposteln: „Nehmet, esset; das ist mein Leib. Und er nahm den Kelch und dankte, gab ihnen den und sprach: Trinket alle daraus; das ist mein Blut des neuen Testaments, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.“ (Matth. 26, 26-28).
Die Zeit existiert nicht, wenn der Priester das Grabtuch Christi aus dem Altar herausträgt – und wir Gelegenheit dazu haben zu tun, was die Nächsten Christi vor dem Sabbat nicht mehr tun konnten. Wir erweisen Ihm die letzte Ehre der Lebenden vor dem Verstorbenen.
Die Zeit existiert nicht, wenn über der ganzen Welt der freudige Ruf erschallt: „Christus ist auferstanden!“
Wir versammeln uns Samstagabend in der Kirche – die Kirche ist noch still und dunkel. Selbst die brennenden Kerzen verbreiten ein gedämpftes Licht, im Halbdunkel glänzen die Verkleidungen der Ikonen, leise bewegen sich Frauen durch den Raum und bereiten Körbe mit Kulitschi und Ostereiern für die Segnung vor. Noch sind die Gesichter ruhig, noch liegt das mit Blumen reich geschmückte Grabtuch im Zentrum der Kirche, und noch fallen die Gläubigen vor ihm auf die Knie. Doch wie leuchtend und schön sind die Frauen gekleidet, wie feierlich die Männer!, und obwohl die Stimmen noch gedämpft und die Bewegungen noch vorsichtig sind, sieht man doch schon ein Freudenglitzern in den Augenwinkeln – wir warten… Schon bald ist es soweit. Bald wird das ganze Universum vom Ruf erschüttert: „Tod, wo ist dein Stachel? Hades, wo ist dein Sieg? Christus ist auferstanden!“
Diesen Ruf hört man bereits im leisen Klirren der Glöckchen am Weihrauchfass, wenn der Altarraum noch verschlossen ist und der Priester in weiße Gewänder gehüllt. Diesen Ruf hört man im stillen Gesang, der hinter den verschlossenen Türen anklingt: „Deine Auferstehung, Christe unser Heiland, besingen die Engel im Himmel – gewähre auch uns auf Erden Dich reinen Herzens zu preisen!“ Diesen Ruf hört man durch die gespannte Stille, wenn die Gläubigen wie erstarren und gespannt darauf warten, wann denn die Königspforte geöffnet wird und die Freude herausgeströmt kommt, die Freude, welche die Herzen überschwemmt und in Tränen durch die Augen tritt.
Christus ist auferstanden!
Und es erhellen sich die müden Gesichter der Leute. Christus ist auferstanden! Die Kinder, die zu dieser dunkelsten Stunde der Nacht längst schlafen müssten, stimmen freudig an: „Wahrhaftig auferstanden!“ Christus ist auferstanden! Und die Kirche wird erfüllt von hellem Licht, die Glocken läuten, die Leute lachen glücklich und umarmen sich. Christus ist auferstanden! Selbst die, welche in der Kirche keinen Platz mehr gefunden haben, gratulieren einander in anderen Sprachen, stehen im Vorraum, auf den Stufen und vor der Kirche. Christus ist auferstanden – und unter uns gibt es werde Griechen noch Juden, und es scheint, als sei die babylonische Sprachverwirrung verschwunden und wir verstehen alles, was man an freudigen Zurufen an uns richtet.
Die Müdigkeit von der Fastenzeit, vom langen Stehen bei den Gottesdiensten verfliegt – freudig sind die Gesichter jener, die in dieser großen Nacht zur Kommunion gekommen sind.
Es gibt ungläubige Menschen, die darum bitten, dass wir ihnen erzählen, wodurch sich unsere österliche Freude von ihrer Freude unterscheidet – von einer Freude, die man empfindet, wenn man die Natur bewundert, auf Erfolge seiner Kinder stolz ist, Glück oder Liebe empfindet. Versuchte man, das in Worte zu fassen, so kann man beschreiben, was man empfindet, wenn zum Beispiel der unvermeidliche Tod von dir weicht, oder wenn man einen geliebten Menschen wieder erhält, der diese Welt faktisch schon für immer verlassen hat, und so weiter – alles das beschriebe man einem Menschen, der nie etwas derartiges empfunden hat. Einem Poeten möge das gelingen, aber Worte schmälern den Eindruck lediglich.
Wenn man erstmals die Freude Christi Auferstehung gespürt hat, dann beginnt man zu verstehen, was der Apostel meinte, als er in den dritten Himmel entrückt wurde und nicht einmal verstanden hat, ob er im Leibe oder außerhalb des Leibes war. Man versteht es, denn er weiß nicht, wie er vom Durchlebten berichten soll:
„Ich kenne einen Menschen in Christo; vor vierzehn Jahren (ist er in dem Leibe gewesen, so weiß ich's nicht; oder ist er außer dem Leibe gewesen, so weiß ich's nicht; Gott weiß es) ward derselbe entzückt bis in den dritten Himmel. Und ich kenne denselben Menschen (ob er im Leibe oder außer dem Leibe gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es); der ward entzückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, welche kein Mensch sagen kann.“ (2 Kor. 12:2-4).
Die Pforten der Kirche sind für alle geöffnet, Ostern wird uns allen geschenkt. Schön ist, dass es jedes Jahr mehr Menschen werden, die dieser heiligen Freude teilhaftig werden wollen. Schön ist, dass der Herr Zugang zu den Herzen der Menschen findet. Es ist schön, dass auch ihr dabei sein könnt – immer, in jedem beliebigen Augenblick.
Alle Fotos im Picasa-Webalbum.