Wir haben uns im Lesesaal des Großen Schriftenarchivs kennengelernt: wir beide hatten ein und dieselben historischen Dokumente angefordert. Mein Mitbewerber erwies sich als Deutscher aus der ehemaligen DDR. Er konnte sich einigermaßen auf Russisch verständigen, und so kamen wir ins Gespräch, und schließlich ließen wir die historischen Dokumente liegen und begaben uns ins nächste Café, um unser Gespräch dort fortzusetzen. Der Deutsche kannte alle russischen Priester, die derzeit in Deutschland ihren Dienst tun, nannte mir ihre Namen und freute sich sehr, als ich darunter einen meiner Bekannten ausmachte. Danach berichtete er mir von den alltäglichen Problemen orthodoxer Gemeinden, von der Instandsetzung von Kirchen, vom Unterricht in Kirchengesang...
Schließlich hakte ich ein: in welcher Beziehung stehen Sie eigentlich zu all diesen Dingen? Es stellte sich heraus, dass er in einer durchaus nicht einfachen und besonderen Beziehung dazu steht. Er ist Historiker, der die Geschichte der Konzentrationslager zur Hitlerzeit untersucht, und zum Beispiel wurden ja orthodoxe Geistliche aus Südeuropa ins Todeslager Dachau deportiert. Nicht nur Priester, auch hohe Würdenträger kamen dort hin, wie beispielsweise der serbische Patriarch Gavrilo oder Bischof Nikolaj (Velimirović)...
Er erzählte, wie erst unlängst in Dachau eine orthodoxe Kirche gebaut wurde - eine aus Holz, und wie man um die Kirche herum Birken pflanzte. Am gleichen Ort baute man auch Kirchen der anderen christlichen Konfessionen und eine Synagoge. Es wurden ein gemeinsames Gedenkkreuz und eine große Menora dort platziert. Später musste das Kreuz freilich entfernt werden, während die Menora stehenblieb...
Unsere Priester berieten ihn zu allen Fragen, die mit dem kirchlichen Leben von gefangengehaltenen Geistlichen zu tun hatten: in den Baracken mussten ja Gottesdienste gefeiert werden, es gab Kommunion. Entsprechend gab es Bittschreiben, die von der Lagerleitung bearbeitet wurden, die ihnen das eine Mal stattgab, sie das andere Mal ablehnte. Wenn es eine Genehmigung gab, dann natürlich nur unter bestimmten Bedingungen… Und all das gab es auf Papier, mit Unterschriften, Stempeln, Entscheidungen, mit genauer Zeitangabe. Der Deutsche berichtete, dass selbst bei den Erschießungen die Zeiten exakt angegeben wurden: der Schuß wurde um so-und-so viel Uhr und so-und-so viel Minuten abgegeben - dann die Unterschrift eines Offiziers, und der Tod trat nach so-und-so viel Minuten ein - dann die Unterschrift eines Arztes.
Ebenso gewissenhaft wurden in Dachau die Fragebögen ausgefüllt, es gab sogar eine Frage nach der Religionszugehörigkeit. An dieser Stelle hatte es keinen Sinn mehr, etwas zu verbergen - was man auch angibt, es erwartet einen der Tod. Der deutsche Historiker berichtete, dass er tausende solcher Akten gesichtet hatte: der überwiegende Großteil der Häftlinge waren sowjetische Offiziere. Fast alle von ihnen waren orthodox; mitunter gab es auch Moslems; andere gab es nicht. “Andere gab es nicht”, wiederholte er deutlich und bemerkte wie nebenbei, dass dieser Krieg von der letzten Generation getaufter russischer Menschen gewonnen worden ist. Später gab es praktisch kaum noch Taufen, und alle folgenden Auseinandersetzungen sind nicht annähernd so eindrucksvoll ausgegangen.
Damit haben wir uns auch voneinander verabschiedet: er trank seinen Kaffee aus und begab sich wieder ins Archiv; ich habe ihm voller Respekt den Vortritt bei den historischen Dokumenten gelassen.
Priester Jaroslaw Schipow: Dachau. Begegnung mit einem deutschen Historiker. Quelle: www.pravoslavie.ru