Kurzgeschichte aus dem Buch "Die Überfahrt" von Jaroslaw Schipow
Eines Tages konnte ich nach dem Gottesdienst in einer der weiter entfernten Gemeinden keine Mitfahrgelegenheit auftreiben, die mich nach Hause bringen würde. Auch sonst war es dort damit immer etwas schwierig: man hatte achtzig Kilometer über unbefestigtes Gelände zu fahren, und die Gottesdienste fielen üblicherweise auf die Sonntage, an denen die Garage der Kolchose geschlossen und die Leute in ihren Gemüsegärten beschäftigt waren.
So saß ich also vor der Kirche, wurde langsam müde und beschloss, ein wenig spazieren zu gehen. Unweit der Kirche gab es einen Friedhof, und in einem Haufen Abfall, zwischen alten Kränzen und verblichenen Papierblumen bemerkte ich einige grün gewordene Totenschädel...
Welch ein Unglück! Aber so ist es hier auf allen Friedhöfen: stößt man beim Anlegen eines neuen Grabes auf alte Knochen, so werden diese in den Abfall geworfen. Wie oft habe ich es den Leuten gepredigt: das sind die Gebeine eurer Vorfahren, vielleicht eures Großvaters, der Großmutter oder Urgroßmutter… ich bekomme unverständliche Blicke, die zu sagen scheinen: Na und? Sie haben genug herumgelegen, das reicht doch...
Recht hatte wohl der Bischof, der in einem seiner Rundschreiben meinte: “Es ist unglaublich, wie sehr unser Volk geistlich verkommen ist”...
Ich ging also um die Kirche herum und sah unten, am Fluss, einen Laster und irgendwelche Leute. Ich begab mich hinunter - es waren drei Soldaten, die dort eine Brücke reparierten, welche noch durch das Frühjahrshochwasser beschädigt worden war. Im Grunde war es nur einer, der die Arbeit machte: er schwang den Vorschlaghammer, trieb eiserne Klammern in die Balken, die anderen beiden aber standen daneben, die Hände in den Taschen, die Uniformjacken auf, und die Zigaretten zwischen den Zähnen...
“Guten Tag”, sagte ich, “ihr stolzen Krieger.”
Die zwei nickten mir schweigend zu, der Arbeitende aber warf den Vorschlaghammer weg, kam herbeigelaufen und neigte sein Haupt, wie, um den Segen zu empfangen, einzig, dass er die Handflächen aneinanderlegte. Na, das wird wohl einer von den Neulingen sein, dachte ich mir. Ich gab ihm den Segen, und er küsste mir die Hand. Dann wandte er sich zu den anderen beiden und sagte:
“Ein russischer Mullah!”
Erst in diesem Augenblick begriff ich, dass ich es hier mit einem Moslem zu tun hatte. Und dieser muss den anderen beiden erst erklären, dass ich ein russischer Mullah sei, und, so schien es, hat er von ihnen eine größere Begeisterung darüber erwartet. Diese aber holten weder ihre Hände aus den Taschen, noch die Zigaretten aus den Zähnen - sie blieben stehen, ihre Kleider aufgeknöpft, so dass man ihre Taufkreuze sehen konnte.
Ich muss zugeben, dass ich etwas ähnliches bereits in der Verwaltung unseres Gebiets erlebt habe: alle meine Landsleute erwiderten meine Grüße nur mit erschrockenem Nicken und verkrochen sich eilends in ihre Büros, und nur ein Usbeke, der aufgrund unerklärlicher Umstände hier stellvertretender Landrat geworden ist, war über meinen Besuch aufrichtig erfreut, bewirtete mich mit Tee und bat mich, dass “meine” den Leuten vergeben möge, sie hätten “Gott ganz und gar vergessen” und wollten nur die “materielle Pilosopie” kennen. Mit der Zeit gewöhnten sich die Leute allerdings an mich, gleichwie der Usbeke sich den “F”-Laut aneignete, der in seiner Sprache nicht existierte.
Dieser Soldat jedenfalls war ein Tatare. Er bot mir sogleich an, mich heimzufahren, zumal sie ohnehin in etwa in dieser Richtung zu fahren hatten, er musste lediglich noch ein paar Dutzend eiserne Klammern in die Balken schlagen… Ich wollte schon zu dem zweiten Vorschlaghammer greifen, der daneben im Gras lag, aber da durchzuckte es meine Glaubensbrüder: sie schoben mich und den Tataren beiseite und erledigten die ganze Brückenbauerei innerhalb weniger Minuten...
Ein Jahr später traf ich diesen Tataren beim Begräbnis seines Schwiegervaters. Ich erfuhr, dass er seinen Wehrdienst bereits beendet und ein junges Mädchen aus dem Dorf geheiratet hatte; mit ihr war er in seine Heimat zurückgekehrt. Er berichtete mir auch, dass er dem Mullah beim Bau einer Moschee hilft, seine älteren Brüder aber, die allesamt ungläubig waren, verboten ihm das. Und auf einmal fragte er mich, wem er gehorchen solle: den Brüdern oder dem Mullah?
“Gehst Du oft, um dem Mullah zu helfen?” fragte ich.
“Einmal im Monat.”
“Versuche doch, es einmal in der Woche möglich zu machen.”
Da freute er sich.
Noch ein weiteres Jahr später suchte er mich, als er im Sommer in unsere Gegend kam, selbst auf und berichtete, sein Mullah habe ihm gesagt, er soll sich während der Urlaubszeit in allen schwierigen Fragen an den russischen Batjuschka wenden.
Kurzgeschichte aus dem Buch "Die Überfahrt" von Jaroslaw Schipow